RP: Kirche im Blick durch die Fotolinse
Georg Kaiser, Vorsitzender des Kirchbauvereins, weist auf die außergewöhnliche Fotoausstellung in der Propsteikirche St. Marien hin. Fotografen und Fotografinnen suchten das besondere Motiv.
In St. Marien rückte ein Workshop von Hobbyfotografen unvermutete Details der Kirchen-Kunstwerke ins Bild. Daraus entstand eine Ausstellung des Kirchenbauvereins, die bis in den Januar im Chorumgang faszinierende Einblicke bietet.
KEMPEN | Kempens Pfarrkirche als Fotomodell? Doch, das ist möglich. Es kommt auf den Blickwinkel an, aus dem der Fotograf sich seinen Motiven nähert. Und auf die Technik, mit der er seine Bilder gestaltet. Wenn man die Kunstwerke in der gotischen Basilika und ihre Architektur einmal mit anderen Augen betrachtet, wird St. Marien zum Modell – dafür, wie man verborgene Schätze aufspürt. Dann entstehen Ansichten, die überraschende Einsichten gewähren.
St. Marien mal anders – das war das Ziel eines Foto-Workshops, den im September elf Hobbyfotografen unter der Leitung ihres Kempener Künstler-Kollegen Josef Lamozik durchführten: zwei Tage lang, mit digitaler Foto-Technik gestaltet und beschienen vom Licht der Spätsommer-Sonne, die durch die hohen Fenster hereinfiel.
Aus der Thomasstadt waren Rainer Lange, Mechthild und Hubert Kranig dabei, Manfred Joosten, Jeyaratnam Caniceus, Konrad Nolten-Falk und Helmut Jansen. Hunderte Male klickten die Verschlüsse. Ergebnis ist eine Ausstellung, 27 Bilder umfassend, die bis Januar im Chor-Umgang zu sehen sein wird. Kundig eröffnet wurde sie durch Kempens Kulturamtsleiterin Elisabeth Friese. „Ein gutes Bild ist ein Bild, das länger als eine Sekunde betrachtet wird“, zitierte Friese den französischen Filmemacher und Schwarz-Weiß-Fotografen Henri Cartier-Bresson.
Ganz klar: Die Bilder im Chor-Umgang werden länger betrachtet als eine Sekunde: Sie haben es inhaltlich in sich. Und sind aufgenommen mit neuester Computer-Technologie. Ein Beispiel sind die Kinder, die im Annenaltar als winzige Figürchen das Bügelspiel treiben – eine Aufnahme, aus unzähligen Einzelstückchen zusammengesetzt. Mit „Panorama-Technik“ hat Christian Uebing das Rot der Kinder-Wangen sichtbar gemacht, das der Betrachter mit bloßem Auge gar nicht erkennt. Auf der Bügelbahn ist jedes Staubkörnchen zu erkennen.
Werfen wir einen Rundblick auf einige Stückchen erlesener Foto-Kunst. Einen Schutzengel für die Thomasstadt zeigt das Foto von Konrad Nolten-Falk. Der Himmelsbote, 1493 von Johannes Gruter aus Wesel für das Chorgestühl kunstvoll geschnitzt, lächelt: Kempen ist gut aufgehoben bei ihm. Zum Beweis hält er das Stadtwappen in der Hand. Der Blick fällt auf sein freundliches Gesicht, seine fein gelegten Locken, seine langen schmalen Hände und sein in tiefe Falten gelegtes Gewand. All das unterstreicht die bildhauerische Leistung des Schnitzers.
Gleichsam ins Schweben gebracht wird der Erzengel Michael, der Drachenbezwinger. Seine Statue wurde um 1510 in Antwerpen gefertigt. Elegant und auffallend groß für eine Antwerpener Werkstatt steht der Heilige auf der Spitze des Marienretabels auf dem südlichen Seitenaltar. Helmut Jansen hat ihn als strahlende Glorienfigur vor schwarzem Hintergrund kunstvoll in Szene gesetzt.
Und da ist der heilige Christophorus, als übermannshohe Plastik um 1400 hergestellt. Auf einen Baumstamm gestützt, trägt er das Jesuskind, das die rechte Hand segnend hebt und mit der linken die Erdkugel mit Kreuz direkt über dem Kopf des Heiligen aufrichtet. Christophorus steht auf einer Steinkonsole in Gestalt eines Engels. Der trägt die fünf Wundmale, die Christus bei der Kreuzigung empfing – ein Hinweis auf die Erlösung durch den Sohn Gottes, einfühlsam abgebildet von Rainer Lange. Elisabeth Friese findet: „Eine meiner Lieblingsskulpturen in dieser Kirche.“
Im ideellen Mittelpunkt des Gotteshauses: Der 1508 geschaffene Marienleuchter, ein Höhepunkt niederrheinischer Kunst. Vor dem Hochaltar schwebt vom Gewölbe herab die Madonna im Strahlenkranz, die Patronin der nach ihr benannten Kirche. In der Muttergottes fand das einfache Volk etwa ab 1200 seine religiöse Idealgestalt. Die Menschen näherten sich Christus nun durch die Vermittlung der Jungfrau, die niemanden abwies und deren Fürbitte, wie man glaubte, ihr Sohn sich nicht entziehen konnte.
Bei der Darstellung dieses Kunstwerks hat Helmut Jansen radikal die Perspektive gewechselt. Aus der Bodensicht zeigt er uns den Luzifer (der hier in seiner wörtlichen Übersetzung als „Lichtträger“ dient). Wie die mittelalterliche Weltordnung es will, tritt die siegreiche Muttergottes dem Unhold in den Nacken. Vom Leuchter sind auf dem Bild nur noch die weit ausladenden Kerzenhalter zu sehen, umfangen vom gotischen Deckengewölbe. Auf einem anderen Foto lenkt Hubert Kranig den Blick unmittelbar auf das liebevoll lächelnde Gesicht Mariens. Mit ganz eigener Lichtführung fängt er die Schönheit der gotischen Figur und des Jesuskindes ein.
Bilderrätsel gibt es auch. Wie hat Jeyaratnam Caniceus es geschafft, die Säulen des Kircheninnern lila einzufärben? Wie kann der Marienleuchter so nah an der Orgel sein? Verfremdungen, die Caniceus’ Bild so spannend machen. Eine andere Denkaufgabe stellt Hubert Kranig. Wo hat er nur sein Foto geschossen? Jetzt erkennen wir es: Die Aufnahme wurde im Glockenturm gemacht. Kranig hat die Vierung des Gewölbes, 1457 errichtet, in changierende Farben getaucht.
Wenn man die Kirche durch diese Turmhalle verlässt, blickt man rechts zum Missionskreuz auf. Das erinnert an fünf Volksmissionen, von 1897 bis 1938, bei denen Geistliche mit ihren Predigten die Menschen in ihrem Glauben stärkten. Der Längsbalken des Kreuzes zeigt himmelwärts. Als Wegweiser nach oben. Wie die ganze Propsteikirche.